Immer wieder werde ich gefragt, „Sind traumatische Geburtserfahrungen wirklich so häufig?“ oder „Kann eine Geburt, also ein physiologischer Prozess, überhaupt traumatisch sein? Erst recht, wo doch Jede Frau weiss, dass eine Geburt kein Wunschkonzert ist?“.
Die letzte Frage kann ich eindeutig mit „Ja“ beantworten, denn hierzu gibt es inzwischen eine gute Datenlage. Ebenfalls gut erforscht ist, was dazu führt, dass eine Geburt als traumatisch empfunden wird.
Traumadefinitionen
Um dies zu objektivieren, helfen uns die verschiedenen Trauma-Definitionen. Danach kommen wir auf die Häufigkeit traumatischer Erfahrungen und deren Auslöser zu sprechen und am Schluss gebe ich einen kleinen Ausblick, welche Faktoren (nicht immer) vor Traumatisierung schützen könnten.
Bevor wir uns mit den konkreten Zahlen zur Häufigkeit traumatischer Geburtsverläufe beschäftigen, hilft uns ein Blick in die Realität der Kreissäle, um zu verstehen, warum Geburt, ein zunächst als physiologisch zu betrachtenden Vorgang, in vielen Fällen nicht der schönste Tag im Leben einer Frau ist.
Das hat unter anderem damit zu tun, dass kaum eine Geburt in einer Klinik völlig ohne Interventionen auskommt.
So zeigte die Hebamme Clarissa Schwarz in ihrer im Jahr 2008 veröffentlichten Promotionsarbeit, dass bei 90% der Geburten mit niedrigem Risiko mindestens eine medizinische Interventionen stattgefunden hatte.
Eingriffe, die als medizinische Interventionen gelten:
1. Internes Geburts-CTG
2. Fetalblutuntersuchung
3. medikamentöse Zervixreifung
4. Geburtseinleitung
5. Wehenmittel
6. Anästhesien
7. Episiotomie
8. Forzeps
9. Vakuumextraktion
10. primäre Sectio und
11. sekundäre Sectio
Es ist also nicht verwunderlich, wenn ein Teil der Gebärenden bei dieser hohen Interventionsrate, wohlgemerkt in einem Niedrig-Risiko-Kollektiv, die Geburt als traumatisch erlebt. Auch die Kaiserschnittraten, obwohl in den letzten Jahren stagnierend, bewegen sich nach wie vor auf hohem Niveau. (2018: 29,1% 2019: 29,6% und im Jahr 2020: 31,4%)
Aber wann bezeichnen wir ein Ereignis als traumatisierend?
Hierzu möchte ich anhand aktueller Definitionen erklären, was wir als Traumata bezeichnen.
„Traumata werden in der ICD-11 definiert als Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohung, die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. Die „klassische“ Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist gekennzeichnet durch Intrusionen, Vermeidung und Hyperausal. Wichtig: Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) wird als eigenständige Diagnose in das ICD-11 aufgenommen und tritt als Folge von sich wiederholenden oder langandauernden traumatischen Ereignissen auf. „ (Hecker 2015)
Traumadefinition von Peter Levine
Eine weitere Traumadefinition, die auch im Kontext der Geburt Anwendung findet und das individuelle Erleben betont, ist diejenige von Peter Levine, dem Begründer von Somatic Experiencing (SE): „Zum Trauma wird ein Ereignis, wenn es unsere Schutzhülle verletzt und uns mit einem Gefühl der Überwältigung und Hilflosigkeit zurücklässt. Mit anderen Worten: „Es war zu viel, zu schnell, zu plötzlich (Überaktivierung).“ Können wir diese Situation nicht mit Kampf oder Flucht auflösen, bleibt die Trauma-Energie laut Levine im Körper erhalten.
Somit beschreibt SE Traumata eine biologisch unvollständige Antwort des Körpers auf eine als lebensbedrohlich erfahrene Situation.
Doch wie häufig treten traumatische Ereignisse im Kontext der Geburt auf?
Da wir Zahl und und Art potentiell traumatisierender Ereignisse in der Geburtshilfe selbst nicht gut messen können, denn jede Frau erlebt die Geburt und alles, was damit zusammengehört, sehr individuell, beziehen sich die meisten Forschungsarbeiten auf das Auftreten der Traumafolgen also der „posttraumatischen Belastungsstörung“ PTBS oder der so genannten „traumatogenen Stressreaktion“ TSR einige Wochen nach der Geburt.
Die TSR wird mittels eines validierten Fragebogens, dem „Impact of event scale“ (IES) erhoben.
Die Impact of Event Scale-revidierte Form (IES-R) erfasst typische Formen individueller Reaktionen bzw. Symptome auf extrem belastende Ereignisse.
Als Folgen auf Extremereignisse wie sexualisierte Gewalttaten, Kriegserleben, Naturkatastrophen oder eigene lebensbedrohliche Erkrankungen haben sich drei Formen typischer psychischer Reaktionen gezeigt, die vom IES-R erfasst werden: Intrusionen, Vermeidung und Übererregung
Daten aus Deutschland:
Bereits im Jahr 2001 veröffentlichte die Bonner Forscherin Anke Rohde Daten zur Häufigkeit posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) nach der Geburt. Dazu befragte sie 976 Frauen, die in den Jahren 1997/98 in der Bonner Frauenklinik ihre Kinder geboren hatten. Von den 424 antwortenden Frauen gaben 51,2% der befragten Frauen postpartal an, unter Angst zu leiden, 64,6% klagten über Depressionen und 16,7% der Frauen zeigten Trauma-Symptome. (Rohde et al. , 2001) Schlussendlich zeigten 4 Frauen in der Nachbefragung eine ausgeprägte PTBS und bei weiteren 10 Frauen zeigten sich Einzelsymptome.
Das Team um Rohe identifizierte verschiedene Risikofaktoren, die eine PTBS wahrscheinlicher machten. Diese Faktoren beziehen sich auf Ereignisse ausserhalb des Geburtssettings.
Risikofaktoren
• Traumata in der Vorgeschichte
• Psychopathologische Vorgeschichte
• Persönlichkeitsfaktoren
• Psychiatrische Vorerkrankungen in der Familie
• PTBS in der Vorgeschichte der Familie
• Posttraumatische Stressoren
Ausserdem gab es Faktoren, die insbesondere während der Geburt eine Rolle spielten:
Dazu gehörten: das Ausmaß des Traumas, die subjektiv erlebte Bedrohlichkeit der Situation, eine lange Dauer, unerträgliche Schmerzen und Hilflosigkeit. Verschlimmert wurde die Situation für die Mütter auch, wenn sie ein Gefühl des Ausgeliefertseins hatten, die Kontrolle über die Situation verloren ihre Schamgefühle verletzt wurden und wenn sie ihre Umwelt als
unbeteiligt, gefühllos, rücksichtslos empfanden.
Internationale Forschung:
Andere Forscher fanden deutlich höhere postpartale PTSD-Raten als die Bonner Wissenschaftlerinnen. So veröffentlichte das Team um DeSchepper im Jahr 2015 eine Untersuchung aus der hervorgeht, dass in Belgien während der ersten Woche post partum 22% bis 24% aller Mütter Symptome einer PTSD zeigten und 6 Wochen nach der Geburt immer noch 13% bis 20% aller Mütter. Es ist nicht klar, warum sich diese Zahlen so deutlich unterscheiden.
34,5% der Frauen zeigten kurz nach der Geburt eine Traumatogene Stressreaktion
Nicht zuletzt möchte ich die Arbeit des Dresdner Teams um Kerstin Weidner erwähnen.
Es handelt sich dabei um eine prospektive Fragebogenstudie der Uni Dresden, die im Jahr 2019 veröffentlicht wurde. 202 Frauen wurden dafür im letzten Schwangerschaftsdrittel rekrutiert.
177 dieser Frauen konnten 6 Wochen nach der Geburt erneut befragt werden. Ziel der Befragung war, jene Frauen zu identifizieren, die nach der Geburt eine so genannte Traumatogene Stressreaktion (TSR) aufwiesen. Diese wurde mit Hilfe eine validierten Fragebogens, der
Impact of event scale (IES) erhoben.
34,5% der Frauen zeigten kurz nach der Geburt eine Traumatogene Stressreaktion, diese war bei
26% der Befragten mittelstark und bei 8,5% stark ausgeprägt.
Risiko-mindernde Faktoren:
Als Risiko-mindernd wurde ein subjektiv positives Geburtserleben identifiziert. Erstaunlicherweise ohne Einfluss waren der Geburtsmodus, der Geburtsort, sowie Schwangerschaftskomplikationen. Frauen, die generell ängstlicher während der Schwangerschaft waren oder unter Geburtsängsten litten, hatten ein höheres Risiko für eine TSR. Ebenfalls „anfälliger“ waren Frauen, die emotionalen Missbrauch in der Kindheit oder schwangerschaftsspezifischen Stress erlebten.
Dies deckt sich auch mit meiner eigenen Erfahrung und der anderer Fachpersonen, die Frauen nach schwierigen Geburtserfahrungen begleiten. So ist eine traumatisch erlebte Geburt oft leider nicht die erste traumatische Erfahrung im Leben dieser Mütter.
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